Der Sinn einer Pilgerreise - Interview mit Tsoknyi Rinpoche

Dieses Interview mit Tsoknyi Rinpoche fand am 10. November 2011 in Paro, Bhutan statt, am letzten Abend der Pilgerreise mit seinen Schülern.

Eine Botschaft von Rinpoche an die Schüler, die nicht an dieser Pilgerreise teilnehmen konnten:
„Viele Male während dieser Pilgerreise habe ich an alle meine Schüler gedacht und für sie gebetet, egal ob sie nun auf dieser besonderen Reise dabei waren oder nicht. In diesem Sinne wart ihr alle mit dabei und wir haben gemeinsam diese heiligen Stätten besucht.“

Frage: Zu allen Zeiten haben sich Menschen auf der ganzen Erde zu Pilgerreisen an heilige Stätten aufgemacht. Wie kann man diese uralte menschliche Tätigkeit aus buddhistischer Sicht verstehen?

Antwort: Eine Pilgerreise kann eine tiefgründige äußere und innere Reise sein, die uns für zunehmend tiefer gehende Achtsamkeit und Erfahrung öffnet.
Im tibetischen Buddhismus spricht man von drei Arten oder Aspekten von Pilgerreisen: einer verborgenen, einer inneren und einer äußeren, und diese sind miteinander verknüpft. Sie entsprechen den drei Daseinsbereichen Dharmakaya, Sambhogakaya und Nirmanakaya.

Der verborgene oder Dharmakaya-Aspekt einer Pilgerreise ist die „Reise“ zu unserer „Ursprüngliche(n) Reinheit“.
Um diesen „Ort“ zu besuchen, müssen wir unsere kognitiven und emotionalen Verschleierungen (Kleshas) auflösen und die „Kind-Lichtheit“ direkt erkennen. Das ist der Hauptweg zu diesem geheimen („geheim“, weil er von unseren Verschleierungen verdeckt ist) und heiligen Ort.

Der innere oder Sambhogakaya-Aspekt wird uns zugänglich, wenn wir uns darin geübt haben, alle Phänomene in ihrer vollkommenen Reinheit zu erfahren (so wie sie in einem „Reinen Buddha-Bereich“ erscheinen).
Unser Weg dorthin ist also die „Reine Wahrnehmung“ oder die „Reine Sicht“.

Der äußere oder Nirmanakaya-Aspekt ist ein zweifacher.
Bei dem „Höchsten Nirmanakaya-Bereich“ benutzen wir die Ansammlung von Verdienst, die Stärkung unserer guten Absichten, die Praxis von Bodhichitta und die Erkenntnis der Leerheit. Dadurch verschaffen wir uns einen „Zugangs-Pass“ zu dem Höchsten Nirmanakaya-Bereich und erreichen so eine Wiedergeburt in den „Reinen Bereichen“ (wie „Sukhavati“ oder dem „Kupferfarbenen Berg“). In diesen Daseinsbereichen können wir unsere Reise zur vollkommenen Erleuchtung erfolgreich fortsetzen.

Bei dem „Unreinen Nirmanakaya-Bereich“ handelt es sich um den Aspekt oder Daseinsbereich, den wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. Da machen wir eine Pilgerreise zu einer der „25 Heiligen Stätten“ auf dieser Erde: Dort, wo große Meister wie der Buddha, Guru Rinpoche oder andere gelebt, praktiziert und Erleuchtung erlangt haben. Dadurch schaffen wir die Möglichkeit, die reine erleuchtete Energie dieser Meister zu erfahren.
Die Verbindung zu diesen Meistern kann einen positiven Einfluss auf uns ausüben und dazu benutzt werden, unsere Praxis zu beleben und zu vertiefen. Es ist die Kraft der Achtsamkeit der großen Meister, die jenseits aller Zeit ist, welche die Elemente und Lebewesen eines besonderen Ortes mit Segen erfüllt und uns gestattet, verwandelt zu werden. Wenn wir zu einem Ort wie Bodhgaya in Indien oder Tiger‘s Nest in Bhutan fahren, schaffen wir eine direkte, körperliche Verbindung zu solch einem heiligen Ort und können uns der Segenskraft öffnen, welche auf subtile Weise die Atmosphäre durchdringt.
Es ist sehr hilfreich, dann dort unsere tiefsten Vorsätze zu formulieren, in die Fußstapfen der verwirklichten Wesen zu treten, die hier waren und noch immer unsichtbar anwesend sind. Ihr Leben und ihre Lehren sind ein Modell oder Vorbild für uns, dem wir nacheifern können. Das ist ein kraftvoller Weg, unsere Praxis anzuheben.

 

Quelle: www.tsoknyirinpoche.org > news> archiv> Dezember 2011
http://www.tsoknyirinpoche.org/2587/pilgrimage-2011-travelog-and-interview-with-tsoknyi-rinpoche-2/

Übersetzung: hgm